Einleitung Personalentwicklung

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Mithilfe einer diversitätsorientierten Personalkultur und einer diskriminierungs-kritischen Stellenbesetzungspolitik ist viel gewonnen. Lesen Sie hier, worauf es dabei ankommt.

Eine kritisch-reflexive Diversity-Perspektive ist auch für die Reflexion der personellen Strukturen bei freien Trägern, der gremienpolitischen Zusammensetzung des Kinder- und Jugendhilfeausschuss (JHA) und der Verwaltung des Jugendamtes (Zweigliedrigkeit des Jugendamtes) hilfreich. Für eine diskriminierungssensible Alltagskultur und für eine reflexive Professionalsierung der Praxis unter Diversity-Gesichtspunkten ist entscheidend, wie Diversity zum Thema (gemacht) wird: Besonders relevant ist hier, dass die Forderung nach Diversity bei öffentlichen und freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe nicht lediglich als eine Möglichkeit gesehen und mitgeteilt wird, das allgemein um sich greifende Fachkräfteproblem zu beheben. Denn der Grund für eine sozial gerechtere Zusammensetzung der personellen und gremienpolitischen Infrastrukturen liegt nicht am Umstand der aktuellen Personalnot, sondern in der demokratischen Maßgabe und dem Mandat der Kinder- und Jugendhilfe (KJH) selbst begründet.

Personal- und Gremienzusammensetzung der Kinder- und Jugendhilfe unter Diversity-Gesichtspunkten verändern

Der paritätische Einbezug von mehr Fach- und Führungskräften beispielsweise mit Rassismuserfahrung, queerer Transidentität*, Behinderung, mit biographischer Armuts- oder Klassismus-erfahrung ist um der Sache selbst willen Aufgabe der KJH im Kontext gesellschaftlicher Pluralität. Das Mandat der Kinder- und Jugendhilfe unter der demokratischen Maßgabe der Gesellschaftsordnung ist dafür ausschlaggebend und rechtfertigt bereits jede Verbesserung in diese Richtung, sodass es keiner speziellen Bewerbung von ‚Vorteilen‘ bedarf. Es ist wichtig, diese Botschaft stets hervorzuheben, damit sich keine ungünstigen Kommuniqués ergeben, die nahelegen, bestimmte Mitarbeiter*innen als ‚Lückenbüßer*innen‘, ‚kostensparende Arbeitskräfte‘ oder ‚Quotenfiguren‘ darzustellen oder zu verstehen.

Paritätischer Einbezug statt 'stille Reserve' & 'Tokenism'

Wird eine Diversity-Strategie als ‚Lösung‘ des Fachkräftemangels beworben, können vermehrt Schieflagen im Verständnis der Motive für einen Diversity-Prozess und in den Arbeitsbeziehungen und -hierarchien unter den Kolleg*innen die Folge sein, die Diskriminierungsprobleme und Dominanzverhältnisse eher verstärken denn abbauen. Hier läuft die Kinder- und Jugendhilfe Gefahr, ‚Tokenism‘ *, dem neuerlich diskriminierenden ‚Gebrauch‘ und der Ausnutzung von Kolleg*innen Vorschub zu leisten, die Minderheiten repräsentieren oder sich als zugehörig zu vulnerablen* gesellschaftlichen Gruppen und Alltagsdiskriminierung ausgesetzt sehen. Dies kann sich auch dahingehend auswirken, dass die davon betroffenen Kolleg*innen fachlich wie persönlich zum Schweigen gebracht *, und zugleich als ‚Aushängeschild‘ nach außen hin benutzt werden. Zur Bearbeitung des Fachkräftemangels scheinen zudem andere Sachlagen bedeutsam, etwa die Verbesserung der Arbeitsbedingungen oder die Höhe der Entlohnung für die Mitarbeitenden. Diese Fragen sollten nicht durch Diversity-Thematisierungen de-thematisiert werden. Nur, wer selbst ausreichend Ressourcen zur Verfügung hat, kann sie (auch professionell) sinnvoll für Veränderungsprozesse in den Organisationen de Kinder- und Jugendhilfe einsetzen. Deshalb ist eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit den (strukturellen) Bedingungen der Kinder- und Jugendhilfe für mehr Diversity und Soziale Gerechtigkeit zentral.

Generationenwechsel zur Demokratisierung nutzen

Im Kontext des Fachkräftemangels, der sich auch generational abbildet, öffnet sich ein ‚(Zeit-)Fenster‘, das Chancen für grundlegende Veränderungen und Reflexionen in der personellen Zusammensetzung bei freien und öffentlichen Trägern der Kinder- und Jugendhilfe sowie hinsichtlich der Jugendhilfeausschüsse (JHA) bietet. Dies gilt es, diskriminierungskritisch* und umsichtig zu nutzen.

Diversität des Personals in Jugendamtsverwaltung & bei freien Trägern

Weil der Jugendamtsverwaltung eine besondere Bedeutung bei der Umsetzung und Abwicklung der Alltagsanforderungen und weil den freien Trägern eine zentrale Bedeutung bei der Erfüllung in Zusammenarbeit mit den Adressat*innen zukommt, sind die Personalstrukturen eine grundlegender Zugangspunkt. Sie können als Anlass und Ausgangspunkt genommen werden, um diskriminierungsbedingte Schieflagen und Dominanzverhältnisse aufzuspüren und zu verändern. Hier ist das typische Spannungsverhältnis der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik „Hilfe –Kontrolle“ daraufhin zu befragen, ob und in wieweit sich darin jeweils rassistische, sexistische, zwangs- zweigeschlechtliche, ableistische, heteronormative, antisemitische, antimuslimisch-rassistische, klassistische oder andere strukturelle Dominanz- und Gewaltverhältnisse entfalten können.

Hilfe & Kontrolle in diskriminierenden Macht-Strukturen?

In dieser Sichtweise ist folglich zu fragen, wohin sich Adressat*innen, die in der sozialpädagogischen Beziehungsarbeit oder beim Besuch des Jugendamtes Diskrimierungserfahrungen machen, wenden können. Wie steht es um die Rechte von Kinder, Jugendlichen und ihren Familien, wenn diese bei der Inanspruchnahme von Hilfe neuerlich  Erfahrungen von Diskriminierung, Missachtung, Ausschluss, Degradierung  oder Schlechterstellung machen?

Den Schutz im Schutzraum verwirklichen

Mit Diversity Mainstreaming in kritisch-reflexiver Perspektive sind demzufolge weitreichende Infrastrukturen aufzubauen, die dem Diskriminierungsschutz in jenen Räumen, die ja gerade dem Schutz, der Förderung und der Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien dienen soll, in Zukunft besser sichergestellt werden kann. Damit die Kinder- und Jugendhilfe für alle da sein kann, muss sie sich – so zeigt diese erste kurze Einführung – mit einem ganzen Bündel von Widersprüchen und Spannungsverhältnissen im Lichte diskriminierungskritischen Wissens auseinander setzen. Deshalb sind angeleitete Prozesse der diskriminierungskritischen Organisationsentwicklung und Qualifizierungsmaßnahmen wichtig, die vom Bildungsteam Berlin-Brandburg und anderen gemeinnützigen NGOs angeboten werden, ein wichtiger erster Schritt.

Jugendhilfeausschüsse & Diversitätsorientierung

Weil den Jugendhilfeausschüssen richtungsweisende Steuerungsaufgaben sowie kinder-, jugend- und familienpolitische Aufgaben zukommen, muss aus einer diskriminierungskritischen, diversity-reflexiven Sicht seine jeweilige Zusammensetzung und ihre Effekte auf die Hilfe- und Unterstützungsleistungen in seinem jeweiligen  kommunalen Kontext in seiner gesamten Breite befragt werden, um dem Konzept Diversity Rechnung zu tragen.

Beispielhafte Diversity-Fragen für eine Reflexion der Jugendhilfeausschüsse für die Einnahme einer diskriminierungskritischen Perspektive können sein:

  • Wie setzt sich der Kinder- und Jugendhilfeausschuss bezogen auf Diskriminierungserfahrungen jeweils genau zusammen? Spiegelt er die gesellschaftliche Pluralität wider oder bestehen repräsentationspolitische Schieflagen, in der sich die diskriminierende Dominanzverhältnisse der Gesellschaft spiegeln und fortsetzen?
  • Welche Rolle spielt die Zusammensetzung für die Interpretation des Mandats der Kinder- und Jugendhilfe und ihrer politischen, kulturellen wie pädagogischen Fortentwicklung?
    • Welche Rolle spielt sie für die Erörterung und Auslegung von gesellschaftlichen Problemlagen und welche Problemlagen werden wie zum Thema?
    • Welche (wessen) Bedarfe werden wie wahrgenommen, erläutert und der sozialpädagogischen Bearbeitung ‚zugeführt‘ und welche nicht?
    • Worin genau werden die jeweiligen Sozialen Probleme gesehen und welche Stereotypien und Diskriminierungpotenziale sind bereits in den jeweiligen Diagnosen enthalten?
  • Wie ist die personelle Zusammensetzung des jeweiligen Kinder- und Jugendhilfeausschusses im Verhältnis zur Zusammensetzung ihrer Adressat*innen- und Angebotsstrukturen zu sehen?
      • Ist der Kinder- und Jugendhilfeausschuss beispielsweise hauptsächlich von weiß positionierten Personen und Fachkräften ohne Rassismus-, Migrations– und Fluchterfahrung zusammen gesetzt?
      • Wie viele Personen mit biographischen Armutserfahrungen gibt es im Kinder- und Jugendhilfeausschuss?
      • Wie steht es beispielsweise um Mitglieder mit Disability-Erfahrung im Spiegel des Tatsache, das behinderte Kinder, Jugendliche und ihre Familien in einem bislang  ausgesonderten Rechts- und Hilfeerbringungsbereich befinden, der demnächst inklusiv in der KJH integriert werden könnte?
  • Wie ist die personelle Zusammensetzung des Kinder- und Jugendhilfeausschusses im Verhältnis zu ihrer Förderungs– und Zuwendungskultur zu sehen? Welche Personalstrukturen herrschen bei denjenigen freien Trägern vor, die regelmäßig mit großen Zuschlägen gefördert werden?
  • Haben diejenigen Fachpersonen, die selbst intersektionale Diskriminierungserfahrungen machen, lediglich eine beratende Funktion inne oder sind sie stimmberechtigte Mitglieder?

Mitmachen:

Kommen Sie zu den Fortbildungsangeboten beim Bildungsteam Berlin-Brandenburg e.V. und bei anderen Bildungsträgern, um sich mit Diskriminierung im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe zu beschäftigen.

 

Quellen- und Literaturhinweise

  • vgl.  vertiefend zu Tokenism und ‚Zum-Schweigen-gebracht-werden‘ :
      • Martin Luther King Jr. (1964). Why We Can’t Wait. New York: New American Library (Harper & Row).
      • Rosabeth Moss Kanter (1977): Men and Women of the Corporation. Basic Books, New York.
      • zu Tokenism und den ethisch-normativen Anforderungen von Organisationsentwicklung in rassismuskritischer Schwerpunktsetzung der Gegenwart
        • vgl.: Toan Quoc Nguyen (2019) „Kein Spaziergang, sondern ein Dauerlauf!“ Anforderungen an rassismuskritische und diversitäts- orientierte Organisationsentwicklung. In: Sebastian Seng, Nora Warrach (Hg.), Rassismuskritische Öffnung Herausforderungen und Chancen für die rassismuskritische Öffnung der Jugend(verbands)arbeit und Organisationsentwicklung in der Migrationsgesellschaft, Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit e. V. (IDA), Düsseldorf, S. 55-59. Open Acess
      • vgl. Golschan Ahmad Haschemi, Verena Meyer, Pasquale Virginie Rotter (2020): „Slow Slow (Run Run)“ Empowerment, Sichtbarkeit und Teilhabe in der Offenen Jugendarbeit. In: Yasmine Chehata und Birgit Jagusch (Hg.)„Empowerment und Powersharing. Ankerpunkte – Positionierungen – Arenen“; von Beltz/Juventa. Weinheim, S. 289 -301.
      • vgl. Hoeblich, Davina & Baer, Steffen. (2022). Queer Professionals: Professionelle zwischen „queeren Expert:innen“ und „Anderen“ in der Sozialen Arbeit (QueerProf). Eine Studie zu queeren Fachkräften in der Kinder- und Jugendhilfe. Open Acess
      • vgl. Ahmed, Sara (2012): On being included. Racism and diversity in institutional life, Durham, N.C., Chesham: Duke University Press; Combined Academic.
      • vgl. Küçükgöl, Dudu (2019): »Spricht sie noch oder schweigt sie schon? Silencing- Strategien gegen muslimische Frauen in der feministischen Praxis«, in: Alisha M. B. Heinemann/Natascha Khakpour (Hg.), Pädagogik sprechen. Die sprachliche Reproduktion gewaltvoller Ordnungen in der Migrationsgesellschaft, S. 83-98.
      • vgl. zur diskriminierungskritischen Sozialen Arbeit im Menschenrechtskontext: Nivedita Prasad, Katrin Muckenfuss, Andreas Foitzik (Hrsg.)(2019): Recht vor Gnade. Bedeutung von Menschenrechtsentscheidungen für eine diskriminierungskritische (Soziale) Arbeit. Beltz Juventa: Weinheim und Basel.
      • vgl. zu einem kritisch-reflexiven Ansatz: Mecheril, P./Vorrink, A., J. (2012): Diversity und Soziale Arbeit. Umriss eines kritisch-reflexiven Ansatzes. In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit. Themenheft: Diversity Management und Soziale Arbeit. S. 92-101.
    • Zur Konstruktion Sozialer Probleme vgl. Scherr, Albert. (2002). Soziale Probleme, Soziale Arbeit und menschliche Würde. Sozial Extra, S. 35-39. Open Acess
    • Zum sinnvollen Einsatz von Ressourcen im Rahmen von Power-Sharing für Self-Empowerment der Adressat*innen: Can, Halil (2019): Habe Mut zu handeln und dich (kritisch) deiner Macht zu bedienen! Veränderung durch (Selbst-)Hilfe, Partizipation und Empowersharing, Berlin: Qualitätswerkstatt Modellprojekte GesBiT — Gesellschaft für Bildung und Teilhabe. Open Acess
    • Zu Vulnerabilität und Diskriminierung im Kontext Sozialer Arbeit: Vorrink, A. (2015). Integrationsrisiken, Sozialhilfe und Soziale Arbeit – die Perspektive Vulnerabilität. In: Hongler, H., Keller, S. (eds) Risiko und Soziale Arbeit. Springer VS, Wiesbaden.

diversity-jugendhilfe.de ist Bestandteil des Modellprojektes „Diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe – Diskriminierungsschutz stärken und Vernetzung fördern“ in Berlin und Brandenburg (Oktober 2020 – September 2022) des Bildungsteams Berlin-Brandenburg e.V.