Diskriminierungsschutz intersektional angehen

Wer sich mit Diskriminierungsschutz in Gesellschaft allgemein oder der Kinder- und Jugendhilfe im Besonderen auseinandersetzen will, findet, dass es eine Vielzahl von Diskriminierungsformen gibt, die alle gleichzeitig ‚da‘ sind. Weil eine Person von unterschiedlichen Diskriminierungsverhältnissen ‚zugleich‘ getroffen werden kann, ist es für den Ausbau des Diskriminierungsschutzes in der KJH wichtig, die Verschränkungen und Verknüpfungen (an) zu erkennen, die diese in einer konkreten KJH-Situation eingehen.

Kimberlé Williams Crenshaw  prägte in den 1990er Jahren für diesen inklusiven Anspruch den Begriff Intersektionalität (Straßenkreuzung/ Überschneidung) im Kontext der Schwarzen feministischen Bewegung,  die auf Mehrfachdiskriminierung hinwies und sich für mehr und besseren Menschenrechtsschutz für alle einsetzte. Sich mit den Verschränkungen, Verknüpfungen und Verwobenheiten zu beschäftigen, ist demnach sehr wichtig, um zu verstehen, wie diese die konkrete und verletzbare Positionierung hervorrufen, die eine spezifische Diskriminierungserfahrung überhaupt ermöglicht.

Bezogen auf die KJH bedeutet diese Sichtweise: Eine Adressat*in der Kinder- und Jugendhilfe ist beispielsweise nicht zuerst „Frau“ oder „Mädchen“, zweitens „Migrantin“ und drittens ‚auch noch‘ „behindert“. Die Diskriminierngsformen, die die Person verletzen können —  im Beispiel sind es mindestens Sexismus, Rassismus, Ableismus — sind alle zugleich da, gemeinsam wirksam und verbinden sich miteinander.

Der Intersektionalitätsansatz ist über 30 Jahre alt, beschäftigt sich mit diesen und weiteren Herausforderungen aus Menschenrechtssicht und ist damit ein wichtiges und bewährtes Werkzeug für den umfassenden Schutz vor Diskriminierung und seiner Reflexion. Ein intersektionaler Ansatz ist  für die diskriminierungskritische Weiterentwicklung der Organisationen und Praxen der Kinder- und Jugendhilfe deshalb unverzichtbar. Eine intersektionale Herangehensweise  findet sich u.a. im kritisch-reflexiven Konzept der ‚Anti-Opressive Social Work‘ (Nicht-Unterwerfende Soziale Arbeit)* wieder, genauso wie in Ansätzen der ‚Social Justice Education‘ (Bildung für Soziale Gerechtigkeit)* oder des ‚Learning from Below‘ (Lernen von unten)*.

In diesem Beitrag von RosaMag , dem Onlinemagazin für Schwarze Frauen,  erklärt Ciani Sophia Hoederwir die Herkunft des Intersektionalitätsbegriffs.

Vertiefende Auseinandersetzung zu den Hintergründen und ein Praxisforum finden Sie im Portal Intersektionalität

Diskriminierung intersektional besser verstehen: 'frag die andere Frage'*

Werden zum Zwecke eines Ausbaus des Diskriminierungsschutzes in der KJH verschiedene Analysebrillen zugleich ‚aufgesetzt‘ — wie in unserem Beispiel die drei ‚Brillen‘ Sexismus-, Rassismus-, Ablesimuskritik — wird sichtbar, dass alle drei Erscheinungsformen von Diskriminierung sich —  in einer Diversity-Perspektive — miteinander überschneiden und verknüpfen. In ihrer konkreten Verbindung erzeugen sie gemeinsam die spezifische Verletzungsmacht, die Diskriminierungserfahrungen in einer konkreten Situation, in einem bestimmten Kontext oder einem spezifischen Verfahren der Kinder- und Jugendhilfe hervorbringen. Mari J. Matsuda hat in den 1990er Jahren das Intersektionlitäts-Motto „ask the other question“* – ‚frage die andere Frage‘ – bekannt gemacht. Gemeint ist damit, dass zum Schutz vor Diskriminierung Wissen über alle gegeben Formen von Diskriminierung zum Einsatz kommt, und systematisch immer wieder eine neue Frage aus einem anderen Blickwinkel gestellt wird.

Übertragen auf den KJH-Kontext und die Aufgaben in der Organisationsentwicklung heißt diese Herangehensweise im Sinne eines kritisch-reflexiven Ansatzes anhand des Beispiels: war das Hilfeplanverfahren und die Ansprache der Adressat*in von heterosexistischen Vorstellungen (mit-)bestimmt? (Wie) hat sich (anti-muslimischer) Rassismus darin ausgedrückt? Hatte darin Armut oder Klassenzugehörigkeit irgend einen Raum? Dies sind nur einige beispielhafte Fragen, die zeigen sollen, wie Professionalisierung im Sinne des Diversity-Mainstramings in der Kinder- und Jugendhilfe machtkritisch und reflexiv entfaltet werden kann.

Diskriminierungsschutz verstehen: wie das Ausgesetzt-Sein auf einer 'Straßenkreuzung'

Intersektionalität lässt sich gut mit dem Bild der Straßenkreuzung erklären, das Crenshaw als Sinnbild geprägt hat. Auf dieser Straßenkreuzung ist eine Person ausgesetzt und von verschiedenen Seiten, aus verschiedenen Richtungen her ‚verletzbar‘. Sie ist Stereotypisierungen ausgesetzt, die sich aus unterschiedlichen Unrechts- und Unterdrückungssystemen her speisen, deshalb wird Intersektionalität auch als „Ineinanderschleießndes System der Unterdrückung“ bezeichnet, im Anschluss an die Begriffsprägung vom Combahee River Collective.

In diesem Beitrag für die National Associations of independet schools erläutert Crenshaw, wie sich verschiedene Formen der Diskriminierung verbinden und welche Anforderungen sich für Organisationen und Institutionen ergeben. (engl.)

"Sie können die Zustände nicht (ver-)ändern, ohne zu verstehen, wie sie zustande kamen."  (Crenshaw)

Besonders wichtig ist dabei, Identität und Zugehörigkeit nicht als eine sich selbst erzeugende Einheit zu sehen. Übertragen auf die KJH-Organisationen bedeutet dies: Es geht darum, Zugehörigkeit als ein Verhältnis zu sehen, das Akteur*innen, Verantwortliche wie Nutzer*innen der KJH mit gesellschaftlichen Strukturen und historischen Bedingungen in einem konkreten Kontext verbindet, der von Diskriminierungskulturen und Machtstrukturen durchsetzt ist. In Anlehnung an die Erläuterung von Crenshaw aus dem Erklärvideo heißt das: Intersektionale Herangehensweisen im Diskriminierungsschutz angehen bedeutet, die KJH und ihre Bedingungen und Strukturen so zu untersuchen, dass die verknüpften Stereotypien, und wie sie sich jeweils in den Strukturen der KJH um- und übersetzen, besser zu verstehen:

Zwischen Kindern und Jugendlichen untereinander, zwischen Kindern und Jugendlichen und Sozialarbeiter*innen und Erzieher*innen, zwischen Kindern und Jugendlichen und Sozialarbeiter*innen und Erzieher*innen und Jugendamtsmitarbeiter*innen, zwischen Kindern und Jugendlichen und Sozialarbeiter*innen und Jugendamtsmitarbeiter*innen und den KJH-Ausschüssen u.s.w. Hier geht es um die Bereitschaft und den Willen, persönlich und professionell dafür einzustehen, dass ineinander verschränkte Diskriminierungsverhältnisse in der und mit der KJH, wie sie sich aktuell zeigen, erkannt und beseitigt werden: „You can’t change outcomes without understandig how they come about“ heißt übersetzt: „Sie können die Zustände nicht (ver-)ändern, ohne zu verstehen, wie sie zustande kamen.“ Genau dafür ist eine intersektionale Perspektive auf Diskriminierung und Zugehörigkeit zentral.

Intersektionalität, Alltag & Lebenswelten: „Queer und Behinderung – doppelt ausgeschlossen?“

    • Eine Version des Videos mit Audiodeskription findet Sie hier 
    • Das Video mit einer Übersetzung in deutscher Gebärdensprache gibt es hier.

In diesem Beitrag aus

Kübras Vlog“ auf dem
Aktion Mensch Kanal

wird Intersektionalität als Alltagserfahrung aufgezeigt und Barrierefreiheit in queerer* Perspektive thematisiert.

Lebenswelten und Menschenrechte von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien mit intersektionaler Einstellung  besser verstehen

Jugendämter und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe machen einen ‚guten Job‘, wenn sie mit intersektionalem Ansatz sich selbst, die Erfahrungswelten ihrer Adressat*innen, die eigene Praxis und Geschichte als Organisation besser verstehen. Dann vertreten die Mitarbeiter*innen ein demokratisches Mandat, übernehmen Verantwortung für die Umstände, die sie ursprünglich nicht selbst erschaffen haben, verteidigen das Streben nach mehr Sozialer Gerechtigkeit und schützen, achten und gewährleisten die Menschenrechte von Kinder, Jugendlichen und ihren Familien — und dafür ist die Kinder- und Jugendhilfe da.

Machen Sie mit und stellen sie bezogen auf die Aufgaben, Dienstleitungen und Strukturen der KJH aus unterschiedlichen diskriminierungskritischen Perspektiven ‚die andere Frage’*. Lernen Sie eine intersektionale Strategie systematisch einzusetzen, um im professionellen Alltag eine diversitätsorientierte KJH zu verfolgen und die Organisationen der KJH inklusive und diskriminierungskritisch zu transformieren: Eine KJH, die um die Lebenswelt von unterschiedlich positionierten Adressat*innen weiß und diese auch unter Diskriminierungsumständen versteht und unterstützt, ohne selbst institutionell zu diskriminieren.

Bringen Sie mit uns Bewegung in die Praxis und machen Sie die Jugendhilfe demokratischer für alle.

Quellen- und Literaturhinweise

  • Crenshaw, Kimberlé (1989): Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine. University of Chicago Legal Forum, 1989 (1), S. 139-167.
  • Mari J. Matsuda (1991). Beside My Sister, Facing the Enemy: Legal Theory out of Coalition. Stanford Law Review, 43(6), 1183–1192. https://doi.org/10.2307/1229035
  • Combahee River Collective (CRC) (1982): A Black Feminist Statement. In: Hull, Akasha/Bell-Scott, Patricia/Smith, Barbara (Hrsg.): But Some of Us Are Brave. Black Women’s Studies. New York: Old Westbury: 13–23.
  • vgl. Maureen Maisha Auma (2020): Für eine intersektionale Antidiskriminierungspolitik. In: Bundszentrale für politische Bildung (Hg.) Aus Politik und Zeitgeschichte. Open Acess
  • vgl. Mecheril, P./Vorrink, A., J. (2012): Diversity und Soziale Arbeit. Umriss eines kritisch-reflexiven Ansatzes. In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit. Themenheft: Diversity Management und Soziale Arbeit. S. 92-101.
  • Zitat von Crenshaw: live aus dem Video.
  • vgl. Dominelli, L. (2002). Anti-Oppressive Social Work Theory and Practice. Palgrave Macmillan: UK.
  • Leah Carola Czollek, Gudrun Perko, Heike Weinbach (2012): Praxishandbuch Social Justice und Diversity. Theorien, Training, Methoden, Übungen. Beltz Juventa.
  • vgl. Christine Riegel (2010): Intersektionalität als transdisziplinäres Projekt. Methodologische Perspektiven. In: Riegel, C ./Scherr, A ./Stauber, B.: Transdisziplinäre Jugendforschung. Grundlagen und Forschungskonzepte. Wiesbaden, S. 65-89
  • zu den ‚Trilemma der Inklusion‘ (Boger) vgl. einen Artikel zur gleichnamigen Trilogie: Boger, Mai-Anh (2017). Theorien der Inklusion – eine Übersicht. Zeitschrift Für Inklusion (1). Open Acess
  • vgl. Heite, Catrin / Vorrink, Andrea J. (2013): Soziale Arbeit, Geschlecht und Ungleichheit die Perspektive Intersektionalität. In: Sabla, KimPatrick/Plößer, Melanie (Hg.): Gendertheorien und Theorien Sozialer Arbeit Bezüge, Lücken und Herausforderungen. Budrich.
  • vgl. für eine weitere Auseinandersetzung das Portal Intersektionalität an der Bergischen Universität Wuppertal, konzipiert von Katharina Walgenbach und Friederike Reher. Open Acess.
  • zum Ansatz ‚Learning from below‘, auch mithilfe dekolonialer Strategien, vgl. Heinemann, Alisha M.B. (2020): Learning from below – Wissen in Bewegung. Zu den Möglichkeiten solidarischer Bildungsarbeit durch den ‚Funds of Knowledge-Approach‘. In I. van Ackeren, H. Bremer, F. Kessl, H.-C. Koller, N. Pfaff, C. Rotter, E. D. Klein & U. Salaschek (Hrsg.), Bewegungen. Beiträge zum 26. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (1. Aufl.) Leverkusen: Verlag Barbara Budrich, S. 207-222 Open Access

diversity-jugendhilfe.de ist Bestandteil des Modellprojektes „Diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe – Diskriminierungsschutz stärken und Vernetzung fördern“ in Berlin und Brandenburg (Oktober 2020 – September 2022) des Bildungsteams Berlin-Brandenburg e.V.